Da in der Türkei Industrialisierung und Demokratisierung später einsetzten als etwa in Mitteleuropa kam es erst 1952 zur Gründung eines Gewerkschaftsbunds. TÜRK-İŞ (Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der Türkischen Arbeitergewerkschaften) orientierte sich an US-amerikanischen Vorbildern und war rasch der Kritik ausgesetzt, zu wenig demokratisch zu sein und die Interessen der Mitglieder nicht konsequent zu vertreten. Vielmehr stand und steht TÜRK-İŞ im Verdacht, nur ein verlängerter Arm von Regierung und Unternehmen zu sein. Am 13. Februar 1967 verließen daher fünf Gewerkschaften TÜRK-İŞ und gründeten einen eigenen unabhängigen Gewerkschaftsbund. In rascher Folge schlossen sich weitere Gewerkschaften der neuen Konföderation an. Bis 1980 wuchs die Bewegung auf eine halbe Million Mitglieder an. Ziele waren zum einen die konsequente Vertretung der Mitglieder was Arbeits- und Entlohnungsbedingungen betraf, zum anderen aber auch grundlegende politische und soziale Veränderungen hin zu einer sozialen, gerechten und demokratischen Gesellschaft, was sich im Adjektiv „devrimci“ – „revolutionär“ oder „fortschrittlich“ – widerspiegelt, und das mit einer basisdemokratischen, unabhängigen Organisationsstruktur.
Bild: GEMEINSAM-UG-Delegation in der DİSK-Zentrale mit dem Vorsitzendem Kani Beko (Mitte) und dem internationalen Sekretär Kıvanç Eliaçık (Mitte-links)
Noch gravierender als während der Militärdiktatur von 1971 bis 1973 legte der Militärputsch am 12. September 1980 die DİSK-Aktivitäten still. Führende Funktionäre wurden zum Teil über Jahre ins Gefängnis gesteckt. Das Gewerkschaftsvermögen wurde eingezogen, darunter auch Immobilien, die der türkische Staat auch heute noch schamlos nützt. Der DİSK-Gründungsvorsitzende Kemal Türkler wurde schon kurz vor dem Putsch auf offener Straße ermordet. Seine Mörder, deren Namen bekannt sind, mussten sich bis heute nicht vor Gericht verantworten. TÜRK-İŞ hingegen wurde vom Militärregime nicht verboten – warum auch immer.
Erst 1992 wurde DİSK wieder zugelassen, allerdings unter schikanösen Bedingungen, die auch heute noch andauern. Da so etwas wie Betriebsräte oder Personalvertretungen nicht existiert, sind die Gewerkschaften nicht nur die überbetriebliche, sondern auch die einzige betriebliche Interessenvertretung. Damit eine Gewerkschaft dieser Aufgabe nachkommen kann, müssen über 50 % der Arbeiter/innen eines Betriebs Gewerkschaftsmitglieder sein. Ein Beitritt war früher nur bei einem Notar und mit erheblichem finanziellen Aufwand möglich. Mittlerweile ist der Beitritt auch online möglich, aber nicht etwa auf der Website der Gewerkschaft, sondern auf jener des Arbeitsministeriums – ein Beleg und Ausdruck der totalen Überwachung und Reglementierung der Gewerkschaftsarbeit durch den Staat. Um auf Branchenebene Kollektivverträge aushandeln zu können, muss eine Gewerkschaft einen Organisationsgrad von mindestens 10 % nachweisen. Trotz dieser Schikanen konnte die mit Abstand größte DİSK-Gewerkschaft Genel-İş, das ist die Gewerkschaft der Arbeiter/innen im öffentlichen Dienst, 1992 innerhalb von 45 Tagen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Der DİSK gelang es aber nicht, auch nur annähernd die Mitgliederzahlen der Siebzigerjahre zu erreichen. Heute zählen die 21 DİSK-Gewerkschaften rund 100.000 Mitglieder, wie Kıvanç Eliaçık, der Leiter der internationalen Abteilung in der DİSK-Zentrale berichtet.
Wenn es einer Gewerkschaft einmal gelungen ist, in einem Betrieb Fuss zu fassen, ist das noch lange keine Garantie dafür, dass die Möglichkeiten der Interessenvertretung auch gewahrt bleiben. In der südtürkischen Stadt Mersin etwa, deren Gemeindearbeiter von Genel-İş organisiert und vertreten wurden, kam es zu einem Machtwechsel. Der neue Bürgermeister gehört der rechtsextremen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) an. Er stellte rund 1.000 der etwa 2.000 Gewerkschaftsmitglieder kurzerhand auf die Straße, wodurch diese ihre Lebensgrundlage und Genel-İş ihre Vertretungsbefugnis verloren.
Problematisch ist beispielsweise auch, dass viele Arbeiter/innen über Leiharbeitsfirmen angestellt sind. Wenn einem Unternehmen die gewerkschaftliche Organisation der bei ihm tätigen Arbeiter/innen zu unangenehm wird, löst er einfach den Vertrag mit der Leiharbeiterfirma auf und schließt einen mit einer anderen ab, und zwar mit einer, die nicht von der DİSK organisiert wird, sondern entweder gar nicht oder von TÜRK-İŞ oder – gerade im öffentlichen Bereich immer häufiger – von HAK-İŞ, der Hak İşçi Sendikaları Konfederasyonu, also der „wahren“ Konföderation der Arbeitergewerkschaften, dem konservativ-islamischen Gewerkschaftsbund, der der Partei von Präsident Erdoğan nahe steht.
1. Mai = Taksim
Während hierzulande der 1. Mai ein Feiertag ist und Volksfestcharakter hat, ist in der Türkei „1 Mayıs“ nach wie vor ein „Kampftag der Arbeiterklasse“. In Erinnerung bleibt der besonders blutige Angriff auf die 1.-Mai-Kundgebung der DİSK und ihrer Verbündeten 1977 auf dem Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul, an der eine viertel Million Menschen teilnahmen. Mindestens 34 Personen wurden von Unbekannten erschossen. Die Täter wurden nie gefasst.
Heutzutage ist die DİSK-Zentrale am 1. Mai schon um fünf Uhr morgens von einem massiven Aufgebot an Polizeikräften umstellt, das dann mit aller Macht verhindert, dass sich ein Demonstrationszug in Richtung Taksim-Platz bildet. Andere Gewerkschaften halten Maifeiern an anderen Orten ab, berichtet Kani Beko, Vorsitzender sowohl der DİSK als auch von Genel-İş, „aber für uns heißt 1 Mayıs Taksim“, betont Beko den unbeugsamen Willen der DİSK, das Demonstrationsverbot nicht zu akkzeptieren. Heuer wollte Sharon Burrow, die Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbunds die DİSK am 1. Mai unterstützen. Die Australierin wurde aber sogleich verhaftet, als sie ihr Hotel verließ.
Auf die Frage nach der Frauenarbeit der Gewerkschaft meint Kollege Eliaçık, dass da sicherlich zu wenig geschehe, kann aber interessante Details berichten. So sind die DİSK-Gewerkschaften die einzigen, die durchgängig geschlechtsneutrale Vereinbarungen verhandeln und abschließen. In manchen Betriebsvereinbarungen ist der 8. März (internationaler Frauentag) ein bezahlter Feiertag. Täter häuslicher Gewalt werden konsequent aus den DİSK-Gewerkschaften ausgeschlossen.
Bild: DİSK-Vorsitzender Kani Beko überreicht GEMEINSAM-Vorsitzendem Sadettin Demir eine Skulptur mit dem DİSK-Logo.
Schiksal
301 Menschen kamen im Mai 2014 in Soma bei einem Bergwerksunglück ums Leben, der schwerste Vorfall in einer langen Reihe von gravierenden Arbeitsunfällen mit zahlreichen Toten und Verletzten. Während der koservativ-islamische Präsident Erdoğan dies mit Schicksal und Gottes Willen erklärt, spricht DİSK-Vorsitzender Kani Beko von Mord, verursacht durch vollkommene Fahrlässigkeit beim Arbeitnehmerschutz sowohl durch den Minenbetreiber als auch durch die kapitalfreundliche Erdoğan-Regierung. Der Kampf um bessere Arbeitnehmerschutzbestimmungen bildet daher derzeit einen Schwerpunkt der DİSK-Aktivitäten. Auch hier geht die Staatsmacht mit voller Härte gegen die Gewerkschafter/innen vor. Beispielsweise wurde Kani Beko bei einer Großdemonstration von einem gezielten Wasserwerferstrahl am Kopf getroffen und hört seitdem auf dem linken Ohr nicht mehr.
Bild: Kundgebung von Angehörigen und Aktivist/innen zur Erinnerung an Bergwerksunglücke und für Arbeitnehmerschutz mit GEMEINSAM-UG-Beteiligung.
Einen zweiten Schwerpunkt bildet für DİSK derzeit die Forderung nach einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnsauf 1.800 Türkische Lira – TRY (rd. € 630). Derzeit liegt er bei 891 TRY (rd. € 310) und wurde seit langem nicht mehr erhöht bzw. nicht entsprechend der Inflation angepasst.
Flüchtlinge versorgen
Ein dritter Schwerpunkt, von dem der internationale Sekretär Kıvanç Eliaçık berichtet, ist die Versorgung von syrischen Flüchtlingen im Südosten des Landes. Rund 1,5 Millionen Menschen sind vom sogenannten Islamischen Staat in die Türkische Republik geflüchtet und werden dort nur unzureichend versorgt. DİSK stellt zumindest für einen Teil der Vertriebenen die Versorgung mit Nahrung, Unterkunft und ärztlicher Versorgung sicher und betreibt sogar einen Kindergarten für Flüchtlingskinder. Auch die Bewohner/innen der umkämpften Enklave Kobane werden von DİSK mit Lebensmitteln unterstüzt. Für die GEMEINSAM-UG-Delegation war es sehr beeindruckend, dass die türkischen Arbeiter/innen, die selbst oft nur das Notwendigste zum Überleben haben, so solidarisch gegenüber jenen sind, die noch weniger haben. GEMEINSAM-UG möchte daher die Flüchtlingsarbeit der türkischen Kolleg/innen unterstützen und ruft zu Spenden auf (Kontoverbindung: GEMEINSAM, IBAN AT73 14000 7121 0020 254, Verwendungszweck: DİSK)