Die Geburtsfehler des ÖGB

An der Wiege der Zweiten Republik und schon ein paar Tage zuvor an jener des ÖGB – die provisorische Staatsregierung trat am 27. April erstmals zusammen – stand der sogenannte „Geist der Lagerstraße“, also eine in den Konzentrationslagern entstandene Überzeugung, dass es nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht mehr sein darf, dass sich Christlichsoziale, Sozialist/innen und Kommunist/innen gegenseitig im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Blut bekämpfen, sondern dass diese gemeinsam gegen jede Form des Faschismus und für Demokratie und soziale Gerechtigkeit arbeiten müssen. In der Ersten Republik standen sich bekanntlich christlichsoziale, sozialistische und kommunistische Richtungsgewerkschaften feindselig gegenüber, womit der Weg für Austrofaschismus, Bürgerkrieg und Nationalsozialismus zumindest erleichtert wurde. In der Zweiten Republik sollten diese drei gewerkschaftlichen und parteipolitischen Richtungen zusammen in einer einheitlichen Organisation für gesellschaftlichen Fortschritt sorgen. So weit so gut. Nun aber zu den damit verbundenen Geburtsfehlern.

1. Demokratieproblem

Historisch entstanden Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde, indem sich Werktätige auf der untersten Ebene, in Betrieben und regional in Branchen, zusammen schlossen und Vertrauensleute wählten, diese Basisstrukturen vereinigten sich überregional zu Gewerkschaften, die sich wiederum branchenübergreifend zu Verbänden zusammen fanden. Ab einer bestimmten Größe und ökonomischen Stärke, war es möglich, hauptamtliche Gewerkschafter/innen, die sogenannten Sekretäre, hauptamtlich anzustellen, die die Arbeit der ehrenamtlichen Funktionär/innen unterstützten.

1a. „Wahlvorschlag“

Im ÖGB war und ist es umgekehrt. Am Anfang war der ÖGB, gegründet von Funktionär/innen und vor allem Sekretären der Richtungsgewerkschaften der Ersten Republik. Der ÖGB beschloss und beauftragte die Bildung von damals 16 Fachgewerkschaften nach dem Industriegruppenprinzip (mit Ausnahme der Angestellten, für die die GPA vorgesehen wurde). Die eingesetzten Sekretäre dieser Fachgewerkschaften suchten sich Funktionär/innen für die ersten Gremien und diese wiederum warben die ersten Mitglieder an der Basis. Top-down statt Bottum-up. In der damaligen Situation ging es aus dem notwendigen Pragmatismus heraus vermutlich nicht anders. Es ist aber heute immer noch so! In den meisten Gewerkschaften und ihren Gliederungen finden keine Direktwahlen der Funktionär/innen durch die Mitglieder statt. Dort wo es solche Wahlen gibt, wurden diese zumeist erst vor wenigen Jahren eingeführt, um dem Druck der Basis, insbesondere aus den Reihen der Unabhängigen Gewerkschafter/innen, widerwillig ein Ventil zu geben, nicht aber um die Gewerkschaften grundlegend zu demokratisieren. Üblicherweise sind es auch heute noch die Sekretäre – zumeist zwei, ein roter und ein schwarzer, – die einen „Wahlvorschlag“ ausarbeiten. Das heißt, sie handeln die fraktionelle Aufteilung aus und überlegen sich dann, wer von „ihren“ Leuten ins jeweilige Gremium soll, möglicherweise noch wer von den „PUs“, den „Parteiunabhängigen“, also den fraktionell nicht deklarierten Betriebsratsmitgliedern, angefragt wird und sofern die UG oder andere kleine Fraktionen im jeweiligen Bereich Strukturen haben, müssen auch diesen noch einzelne Sitze zugestanden werden.

Ich kann mich noch gut an GPA-Betriebsräteversammlungen erinnern, bei denen lange über alles mögliche gesprochen wurde und dann der Gewerkschaftssekretär zum Schluss anmerkte, dass noch eine Neuwahl durchzuführen sei, dass es einen Wahlvorschlag gäbe und wenn „wir das schnell hinter uns bringen“, wird das Buffet eröffnet. Natürlich war der „Wahlvorschlag“ schnell angenommen.

1b. „Sekretärokratie“

Daraus wird schon klar: Die Macht im ÖGB liegt bei den Sekretären. Sie rekrutieren Betriebsrats- und Personalvertretungsmitglieder für ihre Fraktion, sie suchen sich die Funktionär/innen für die Gremien aus, sie stellen den Vorsitzenden die Tagesordnung zusammen, sie führen das Protokoll etc. In der katholischen Kirche wird ein Pfarrer vom Bischof einer Pfarrgemeinde vorangestellt bzw. „er bekommt eine Pfarrei“. In anderen Kirchen, werden Menschen theologisch ausgebildet und müssen sich dann in Pfarrgemeinden um eine Stelle als Pastor/in bewerben. In vielen Gewerkschaften ist es ähnlich: Jemand wird als Hauptamtliche/r ausgebildet und angestellt und bewirbt sich dann bei den Funktionär/innen darum, die jeweilige Gewerkschaftsgliederung betreuen zu dürfen. Der ÖGB ist in dieser (und nicht nur in dieser) Hinsicht nach wie vor streng „katholisch“. Oder auch – bezogen eben auf die Macht des „Apparates – „stalinistisch“: Der Verein ÖGB wurde nicht von demokratisch legitimierten Behörden der Zweiten Republik genehmigt, sondern von der stalinistisch-sowjetischen Militärkommandatur. Auch das war damals sicherlich nicht anders möglich, ist aber doch bezeichnend.

1c. Umlegung

Zu den Fraktionen als Geburtsfehler kommen wir noch. Um die Einheit des Gewerkschaftsbundes aufrecht erhalten zu können, musste und muss stets ein Ausgleich zwischen den Interessen und Bedürfnissen der politischen Gruppierungen hergestellt werden. Demokratie stellt dabei eine Gefahr dar. In der Demokratie kann etwas anderes heraus kommen, als von den Drahtzieher(inne?)n gewollt. Also wird das Kräfteverhältnis der Fraktionen und damit die Machtverteilung im ÖGB und in den Gewerkschaften in aller Regel nicht durch Direktwahl bestimmt, sondern ausgehandelt. Ein Hilfsmittel – aber wirklich nur ein Hilfsmittel, keine Vorschrift – dafür ist die „Umlegung“. Die funktioniert in etwa so: Rote und Schwarze Gewerkschafter/innen werden nach jeder Betriebsrats-/Personalvertretungswahl (und bei jeder anderen sich bietenden Gelegenheit) losgeschickt, die fraktionell noch nicht deklarierten Betriebsratsmitglieder zu einer Deklaration zu bewegen. Z. B.: „Du bist doch katholisch, oder?“ „Also Christlicher Gewerkschafter, dann bräuchte ich da noch eine Unterschrift von Dir. Du wirst dann auch zum Weihnachtsessen eingeladen.“ Zufälligerweise sind dann Funktionär/innen einer Gewerkschaftsgliederung, die von einem/einer roten Sekretär/in betreut werden, über Jahrzehnte hinweg stabil mit großer Mehrheit FSG-deklariert und Bereiche, auf die schwarze Sekretär/innen Zugriff haben, verfügen über eine stabile FCG-Mehrheit.

Dass es keine Gewerkschaft für alle öffentlich Bediensteten gibt, sondern eine für jene im Bundes- und Landesdienst und eine für Arbeitnehmer/innen im Gemeindedienst, mag seltsam erscheinen, ist historisch und fraktionspolitisch aber leicht erklärbar: Der öffentliche Dienst war und ist ÖVP-dominiert. Die Gewerkschaft öffentlicher Dienst war also die einzige Chance der ÖVP bzw. der FCG eine Gewerkschaft zu beherrschen. Einziges Risiko dabei war das rote Wien. Gut dass Wien nicht nur ein Land, sondern auch eine Gemeinde ist! Somit haben wir nun seit 1945 eine schwarze „Gewerkschaft öffentlicher Dienst“ und eine rote „Gewerkschaft der Gemeindebediensteten“. Um die Einheit zu bewahren, werden natürlich der jeweiligen Minderheitsfraktion, also der FSG in der GöD und der FCG in der GdG, weitgehende Minderheiten- und Mitbestimmungsrechte zugestanden. Was aber, wenn nun in der GöD plötzlich eine dritte Fraktion, noch dazu mit Demokratieanspruch auftritt? Da nicht sein kann, was nicht sein darf, findet spätestens hier das System der Umlegung von deklarierten Personalvertreter/innen bzw. von Wahlergebnissen bei Direktwahlen ein Ende. Das Ansinnen der UGöD als Fraktion anerkannt zu werden und einen Sitz im GöD-Bundesvorstand zu bekommen, ist ungefähr genauso absurd, wie eine Unterschriftenliste von Katholik/innen zur Abwahl des Papstes – um wieder einen Vergleich mit der katholischen Kirche heran zu ziehen. Der Unterschied ist nur, dass die katholische Kirche erst gar nicht vorgibt, demokratisch zu sein. Selbstverständlich sieht das System auch nicht vor, dass die UG Sekretär/innen stellen darf, die dann für die UG Deklarationen sammeln, oder dass den kleinen Fraktionen gegenüber transparent gemacht wird, wann und wo Betriebsratswahlen stattfinden oder wer in welchem Betriebsrat oder in welcher Personalvertretung fraktionell (noch) nicht deklariert ist.

2. Fraktionitis

Seit wann es im ÖGB Fraktionen gibt und seit wann es welche Fraktion gibt, darüber gibt es verschiedene Auslegungen. Klar und unbestritten ist, dass der ÖGB von Vertreter/innen dreier früherer Richtungsgewerkschaften bzw. der drei Gründungsparteien der Zweiten Republik gegründet wurde. Es gab die Fraktionen also schon vor dem ÖGB, auch wenn sie formal erst später entstanden bzw. es erst seit wenigen Jahren eine offizielle Fraktionsordnung gibt.

Eine starke Interessenvertretung der Mitglieder über ideologisch unterschiedliche Zugänge zu stellen, ist sicherlich begrüßenswert und eine Zielsetzung der sich die UG sicherlich gut anschließen kann. Nicht umsonst hieß eine ihrer Vorläufer- bzw. Gründungsorganisationen „Gewerkschaftliche Einheit“. Was aber, wenn der Machtkampf der Fraktionen innerhalb der Gewerkschaftsorganisation wichtiger wird, als die Abwehr von Angriffen der Arbeitgeberseite und das gemeinsame Engagement für eine bessere Welt? Was, wenn die Fraktionitis, jeglicher Modernisierung und Demokratisierung im Wege steht? Die Fraktionen müssen nicht abgeschafft werden. Sie müssen sich aber dem demokratischen Wettbewerb stellen und ihr Einfluss muss zurück gedrängt werden. Hauptamtliche dürfen nicht nach parteipolitischen Kriterien, sondern müssen ausschließlich aufgrund ihrer persönlichen und fachlichen Qualifikation angestellt werden. Es muss flexible Gewerkschaftsstrukturen geben, in denen sich Mitglieder – unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit – für ihre Interessen punktuell, temporär oder auch längerfristig engagieren können.

3. Staatstragende Gewerkschaften und Sozialpartnerschaft

Nie zuvor und vermutlich selten danach konnten Gewerkschafter/innen so massiv die Geschicke eines Staates und einer Wirtschaft mitbestimmen, wie in der Stunde Null von 1945. Viele Betriebe waren zerstört und oft herrenlos, der Kapitalismus als Bruder des Faschismus enttarnt, das Primat der Politik über die Wirtschaft sehr weitgehend. Der Aufbau einer besseren Welt schien und war möglich. Die Gewerkschafter/innen und der ÖGB nutzten diese Möglichkeiten. Über viele Jahre hinweg, waren die Bundesregierung und der Nationalrat oft Vollzugsorgane dessen, was im ÖGB-Vorstand wirtschafts- und sozialpolitisch beschlossen wurde. Natürlich funktionierte diese Schiene auch umgekehrt. Waren anfangs die Kommunist/innen sowohl in der Bundesregierung als auch in den Gewerkschaften gleichberechtigte Partner/innen, änderte sich dies in beiden Bereichen sehr parallel hin zu den Realitäten des „Kalten Krieges“. Streikten Belegschaften 1950 gegen die ausbeuterische Lohn- und Preispolitik der Bundesregierung, stellten sich die Gewerkschaften als williges Instrument zur Verfügung, diese Proteste niederzubügeln.

„Politik ist die Kunst des Möglichen“, meinte nicht nur Otto von Bismarck, sondern wurde auch zur Maxime des ÖGB – nicht nur im Verhältnis zum Staat, sondern auch im Verhältnis zum Klassenfeind, der nun nicht mehr so hieß, sondern zum „Sozialpartner“ mutierte. Wen interessieren die Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen der Mitglieder? „Die Gewerkschaft“ und die SPÖ kümmern sich doch eh im Rahmen des Möglichen darum. Die Mitglieder sollen bloß nicht anfangen uneinsichtig und undankbar zu sein!

In einem politischen System, in dem zwei Parteien zusammen bei allen Wahlen mehr als 90 % auf sich vereinigen und dementsprechend die Republik, ja das ganze Land inklusive Banken, Autofahrerclubs und Sportvereine untereinander aufteilten, ist es wahrscheinlich wenig verwunderlich und kaum verwerflich, dass sich diese Parteien auch die Macht in den Gewerkschaften aufteilten. Was aber, wenn diese Organisationen ihre Aufgabe nur noch darin zu sehen scheinen, rot-schwarze Regierungspolitik an der Basis zu „kommunizieren“ und Widerstände dagegen im Keim zu ersticken? Was, wenn sich die makropolitischen und ökonomischen Machtverhältnisse dahingehend ändern, dass sich der gesellschaftliche Fortschritt nicht mehr quasi automatisch einstellt, wenn es immer weniger zu verteilen, sondern immer weniger zu verteidigen gibt? Was wenn diese beiden Parteien nicht mehr 90 % bei Wahlen bekommen, sondern drohen unter 50 % zu rutschen (und das bei sinkender Wahlbeteiligung)?

Wie eng die Politik der Gewerkschaftsfraktionen an die der jeweiligen Bundesregierung gekoppelt ist, konnte ich in der Arbeiterkammer Vorarlberg erleben. 1994 wurde ich Kammerrat in Zeiten einer rot-schwarzen Bundesregierung und erntete viel Applaus, wenn ich mir Rededuelle mit den Blauen lieferte. Nach der Wende 2000 war alles plötzlich ganz anders. Kein Wort der Kritik an der neuen Bundesregierung von Seiten der ÖAAB-Mehrheit und völliges Unverständnis darüber, dass ich mich über eine Regierungsbeteiligung der Haider-FPÖ aufrege. Dafür eine wachsende „Entfremdung“ zwischen ÖAAB und FSG mit heftiger werdenden Auseinandersetzungen. In den letzten Jahren berichten mir meine Nachfolger/innen wieder ganz anderes: Schwarz und Rot sind wieder ein Herz und eine Seele.

Ein Interessantes Detail dazu findet sich auch in der Geschichte des ÖGB im Jahre 1970. Da wurden nämlich die „Freiheitlichen Arbeitnehmer“ in den ÖGB-Bundesvorstand aufgenommen. Natürlich nur rein zufällig in jenem Jahr, in dem die FPÖ eine sozialdemokratische Minderheitsregierung stützte.

Dass es immer wieder vorkommt, dass sich Funktionär/innen auf Gewerkschaftsversammlungen kämpferisch geben und dann am nächsten Tag im Parlament genau für das Gegenteil stimmen, ist auch nichts Neues.

Es mag sicherlich auch heute noch Belege dafür geben, dass sich die Nähe des ÖGB zu den staatstragenden Parteien und zum Staat selbst, in einzelnen Belangen als vorteilhaft erweist. Dem steht aber eine lange Liste an Erfahrungen gegenüber, bei denen diese Nähe eine konsequente Interessenvertretung der Mitglieder unmöglich machte.

4. Mikado

Die Gewerkschaften vertreten spezifische Interessen ihrer Mitglieder in den Brachen, für die sie zuständig sind. Der ÖGB vertritt übergeordnete Interessen. In Zeiten, in denen an allen Ecken und Enden der gesellschaftliche Aufbau und Fortschritt spürbar ist, ergeben sich daraus wenig Konfliktfelder. Die Gewerkschaften waren anfangs dem ÖGB klar untergeordnet. Das drückt sich auch heute noch dadurch aus, dass nur der ÖGB eine selbständige juristische Person ist und die Gewerkschaften nur teilrechtsfähig sind. Es ist aber längst nicht mehr so, dass der ÖGB diese Karte ausspielen und den Fachgewerkschaften Vorschriften machen könnte. Der GöD ist es beispielsweise seit Jahrzehnten egal, dass der ÖGB ein Fraktionsstatut hat, das sie eigentlich dazu zwingt, die UG anzuerkennen, und der ÖGB nimmt das mit dem Ausdruck des Bedauerns zur Kenntnis. Der ÖGB ist nämlich im Verhältnis zu den Gewerkschaften schwach und wird von diesen schwach gehalten. Ebenso wie es ein permanentes Bemühen um einen Ausgleich zwischen den (beiden) Fraktionen gibt, achten auch alle darauf, dass keine Fachgewerkschaft auf der ÖGB-Ebene zu mächtig wird. Der ÖGB spielt Mikado: Wer sich bewegt, verliert. Nicht der beste/stärkste/engagierteste Kandidat wird ÖGB-Landesvorsitzender, sondern jener, der für die Sandkästen der Gewerkschaften am wenigsten gefährlich werden kann. Für die Gewerkschaftsbewegung insgesamt bedeutet dies, dass zwar einzelne Berufsgruppen um ihre Partikularinteressen kämpfen, dass gleichzeitig aber eine starke Organisation fehlt, die – gerade angesichts der allgemeinen ökonomischen, ökologischen und politischen Krisen – eine übergreifende kämpferische Interessenvertretung organisiert. Der ÖGB ist alles andere als eine gemeinsame Kampforganisation der Werktätigen, sondern die Plattform, auf der die Einzelgewerkschaften darauf achten, dass sich im innerorganisatorischen Gefüge möglichst wenig ändert.

5. Patronalismus

„Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zur Gewerkschaft. Die regelt das für mich. Dafür zahle ich schließlich ja auch meinen Mitgliedsbeitrag.“ So vermutlich die Haltung des durchschnittlichen Gewerkschaftsmitglieds. Logischerweise stellen viele die Zahlung ihres Beitrags ein, wenn sie merken, dass das so nicht oder nicht mehr funktioniert. Ein Problem das weltweit in Gewerkschaften zu beobachten ist, die ein stark patronalistisches Verständnis und Verhältnis zwischen Gewerkschaftsorganisation und Mitglieder haben. Umso tiefer verwurzelt diese Haltung ist, umso größer das Problem. Alles bisher Beschriebene, die Demokratie- und Legitimationsprobleme, die Nähe zwischen Gewerkschaft, Fraktion, Partei und Staat, die Sozialpartnerschaft und die Unbeweglichkeit erklären, warum dieses Problem im ÖGB und in den Gewerkschaften massiv ist. „Wir haben in unserem Zuständigkeitsbereich einen hohen Organisationsgrad (zumindest wenn wir die Pensionist/innen dazu zählen), vertreten also unsere Mitglieder gut.“ Was aber, wenn große Betriebsstrukturen in immer kleinere und immer schwerer zu betreuende zerteilt werden? Was, wenn Arbeitsbedingungen und die damit einhergehenden Probleme immer vielfältiger werden? Was aber, wenn unsere Mitglieder aus unserem Zuständigkeitsbereich ausgelagert und ausgesourced werden? Möglicherweise brauchen wir dann eine andere Haltung und andere Gewerkschaften. Eine Gewerkschaft, in der die Mitglieder nicht sagen: „Die Gewerkschaft soll das für uns regeln“, sondern „Wir sind die Gewerkschaft“ und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Eine Gewerkschaft, die sie befähigt und unterstützt, ihre eigenen Interessen selbständig und eigenverantwortlich zu vertreten und eine Gewerkschaft, die auch imstande ist übergeordnet Solidarität zu organisieren und kampagnen- und kampffähig bzw. -willig ist.

Konsequenzen

Um den ÖGB endlich vom Kopf auf die eigenen Füße zu stellen, ist zunächst eine umfassende Demokratisierung notwendig. Natürlich können nicht alle Gremien auf allen Ebenen in den Gewerkschaften und im ÖGB direkt gewählt werden. Jedes Gewerkschaftsmitglied sollte aber die Möglichkeit haben, in jeder Funktionsperiode zumindest einmal auf Gewerkschafts- und einmal auf ÖGB-Ebene an einer Direktwahl teilzunehmen. Natürlich müssen dabei für die Gewerkschaftspolitik tatsächlich relevante Gremien gewählt werden und nicht etwa nur Betriebsausschüsse, Ortsgruppen und dergleichen. Andererseits dürfen die zu Wählenden nicht zu weit weg von der Basis sein. Bundesweite Wahlen sind vermutlich ungeeignet, um die Bindung der Mitglieder zu ihrer Gewerkschaft zu erhöhen. In größeren Gewerkschaften wären die zu wählenden Ebenen also die Branchengliederungen in den Ländern, also etwa die Wirtschaftsbereiche in der GPA-djp oder die Landesleitungen in den Sektionen der GöD, in kleineren, weniger gegliederten Gewerkschaften die Landesvorstände. Im ÖGB wäre vorstellbar, einen Teil der Landesvorstände über die Fachgewerkschaften und Abteilungen zu beschicken und einen Teil, etwa die Hälfte, über eine Direktwahl. Diese Wahlen müssen – das muss im ÖGB leider dazugesagt werden – den üblichen Mindestanforderungen entsprechen.

Als nächstes muss der ÖGB innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zum Motor für Innovation werden.

  • Er kümmert sich – nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation mit den Gewerkschaften – um die wachsenden Bereiche, in denen die Gewerkschaften schwach organisiert sind.
  • Er kümmert sich um die an Bedeutung zunehmenden branchen- und gewerkschaftsübergreifenden Fragen: Deregulierung, atypische Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Integrationspolitik …
  • Er kümmert sich um den Blick über den Gartenzaun, um eine europäisch, international und global vernetzte Gewerkschaftsarbeit. Er fördert ein neues Organisationsverständnis hin zu mündigen, eigenverantwortlichen, engagierten Mitgliedern, die von den Gewerkschaften ausgebildet und unterstützt werden.
  • Er fördert flexible, basisnahe, kampf- und kampagnenfähige Strukturen in den Gewerkschaften und gewerkschaftsübergreifend.

Und das alles bitte ein bisschen flott! 2015 feiern wir 70 Jahre ÖGB. Das könnte die Geburtsstunde eines ÖGB für das 21. Jahrhundert sein. Ohne Geburtsfehler!

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