Resolution 01 / Kein Zurückdrängen der Kollektivverträge – Keine Schwächung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Gewerkschaften!

der AUGE/UG – Alternative und Grüne GewerkschafterInnen/Unabhängige GewerkschafterInnen

zur 167. Vollversammlung der Arbeiterkammer Wien am 14. November 2016

Resolution wurde einstimmig angenommen

Antragsbehandlung im Ausschuss Allgemeine Sozial- und Inklusionspolitik, Arbeitsrecht und Rechtspolitik

Die AK Wien möge beschließen:

Die Arbeiterkammer Wien lehnt jeden Versuch branchenweite Kollektivverträge zu schwächen bzw. zurückzudrängen und Lohn- und Arbeitszeitverhandlungen zu „dezentralisieren“ – also auf die betriebliche Ebene zu verlagern – entschieden ab. Nur Kollektivverträge sind geeignet, allgemeingültige, überbetriebliche und branchenweite Mindeststandards herzustellen, die einen Wettlauf „nach unten“ zwischen Betrieben und ArbeitnehmerInnen wirkungsvoll verhindern.

Die Einschränkung bzw. Zurückdrängung von Kollektivverträgen würde die Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen und ihren Gewerkschaften empfindlich schwächen und hätte einen massiven Druck auf Löhne, Arbeitszeitregelungen und Arbeitsbedingungen zur Folge.

Nur starke Kollektivverträge sind in der Lage einen Interessensausgleich zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen herzustellen, das Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital auszugleichen und eine Spaltung der ArbeitnehmerInnenschaft zu verhindern.

Nur starke Kollektivverträge sind geeignet, eine solidarische Lohnpolitik sicherzustellen, welche die Kaufkraft von Löhnen und Gehältern erhält sowie einen gerechten Anteil am Wohlstands- und Produktivitätszuwachs für die ArbeitnehmerInnen garantiert.

Kollektivverträge sind wohl das wichtigste Instrument das Gewerkschaften zur Durchsetzung von ArbeitnehmerInneninteressen zur Verfügung steht. Kollektivverträge regeln Arbeits- und Einkommensbedingungen einer Branche – insbesondere Löhne, Gehälter und Arbeitszeiten, begrenzen Unternehmermacht und leisten so einen wichtigen Beitrag zum Ausgleich der Machtasymmetrie zwischen Arbeit und Kapital. Kollektivverträge legen allgemeingültige, rechtlich verbindliche und einklagbare Mindestrechte fest, die auf individuellem Wege, in einer Einzelvereinbarung, aber auch auf einzelbetrieblicher Ebene aufgrund mangelnder Verhandlungsmacht nicht durchsetzbar wären. Kollektiverträge garantieren zusätzliche „faire“ Wettbewerbsbedingungen innerhalb einer Branche, weil sie für alle Unternehmen gültige Mindeststandards festlegen und die Konkurrenz unter den ArbeitnehmerInnen reduzieren.

Europaweit fanden und finden allerdings in Folge der Krise und neoliberaler Strategien der Krisenbewältigung massive Angriffe auf Kollektivverträge, ArbeitnehmerInnenrechte und Gewerkschaften statt. Unter dem Titel der „Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ sollen tief greifende Strukturreformen am Arbeitsmarkt durchgesetzt werden, die den Druck auf ArbeitnehmerInnen, ihre Rechte und Löhne, auf Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen unter dem Titel der „Flexibilisierung“ erhöhen sollen und unmittelbar – und auch ganz offen – auf eine Schwächung der Gewerkschaften und ihrer kollektiven Verhandlungsmacht abzielen:

  • So wurde etwa im 2011 von den Staats- und Regierungschefs der Euro-Staaten verabschiedeten Euro-Plus-Pakt ausdrücklich festgehalten, dass nationalstaatliche Tarif- und Kollektivvertragssysteme dahingehend reformiert werden sollten, dass Betrieben flexiblere Anpassungen an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen ermöglicht werden. Gleichzeitig wurde von den Kollektivvertragsparteien eine Politik der Lohnzurückhaltung gefordert.
  • 2012 forderte die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EU-Kommission in einem Kommissionsbericht (Labour Market Developments in Europa 2012, European Economy Nr. 5/2012) einen Maßnahmenkatalog für ein „wettbewerbsfreundliches“ Tarifsystem, das u.a. eine Dezentralisierung des Tarifsystems – also die Stärkung der betrieblichen Ebene bei der Lohnfindung, die Einführung bzw. Ausdehnung von Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen von Branchen- bzw. Flächenkollektivverträgen, die Begrenzung bzw. Abschaffung des Günstigkeitsprinzips und die Beschränkung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen forderte. Ganz offen wird in diesem Bericht die „Reduzierung der Tarifbindung“ sowie die „allgemeine Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften“ als Ziel derartiger Arbeitsmarktreformen genannt.

Die eingeforderten Strukturreformen wurden alsbald in besonders stark von der Krise betroffenen Staaten – aber nicht nur in diesen – umgesetzt. EU-Staaten die im Zuge der Euro-Krise vom IWF oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus „Hilfe“ zur Bedienung ihrer Staatsschulden erhielten, mussten sich zu umfangreichen Arbeitsmarktreformen verpflichten, die insbesondere auf eine Schwächung der Gewerkschaften, der Kollektivverträge und der Arbeitsrechte abzielten: Flächenkollektivverträge wurden durch Tariföffnungsklauseln ausgehöhlt, betriebliche Vereinbarungen bekamen gegenüber Branchenverträgen den Vorzug, Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit von Kollektivverträgen wurden erhöht, auf betrieblicher Ebene auch nicht-gewerkschaftlichen ArbeitnehmerInnengruppen das Recht auf Lohnverhandlungen eingeräumt. All diese Maßnahmen führten zu massiven Einkommensverlusten bei den Beschäftigten, zu einem dramatischen Rückgang der kollektivvertraglichen Abdeckung und zu einer nachhaltigen Schwächung der Gewerkschaften und ihrer Verhandlungsmacht (Quellen: ETUI, DGB, WISO-Info 2/2014):

  • In Griechenland mussten die ArbeitnehmerInnen in Folge der Zerschlagung des Kollektivvertragssystems von 2009 bis 2014 Realeinkommensverluste von 24 % hinnehmen. 80 % der auf Betriebsebene abgeschlossenen Lohnvereinbarungen hatten Lohnkürzungen zum Ziel.
  • In Portugal gingen die Reallöhne im selben Zeitraum um 8 %, in Spanien um fast 7 %, in Italien um 3 % zurück. Die Lohnquote – also der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft – fiel in Spanien seit 2009 um 4,7 %, in Portugal um 5,4 %, in Zypern um 6,1 %, in Griechenland sogar um 8,2 %.
  • Die kollektivvertragliche Abdeckung aller ArbeitnehmerInnen ist in Rumänien von Mai 2011 bis Mai 2012 von 98 auf 36 % gefallen. In Portugal ist die Anzahl der Tarifverträge von Ausbruch der Krise bis 2012 von 300 auf 85 gefallen. In Spanien hat sich die tarifvertragliche Abdeckung von 2010 bis 2012 halbiert.

Dass Angriffe auf Kollektivvertragssysteme und Gewerkschaften nicht nur auf besonders krisengeschüttelte Staaten beschränkt bleiben, zeigen nicht zuletzt die Ereignisse in Finnland und Frankreich.

Aber auch in Österreich werden immer wieder – und in letzter Zeit wieder verstärkt –  von VertreterInnen rechts und/oder wirtschaftsliberal orientierter politischer Parteien sowie der Industriellenvereinigung Kollektivverträge in Frage gestellt und die Verlagerung von Lohn- und insbesondere Arbeitszeitverhandlungen auf die betriebliche Ebene gefordert. Während der IV-Präsident Kapsch etwa im Sommer 2015 „Tariföffnungsklauseln“ forderte – also die Möglichkeit, kollektivvertragliche Regelungen auf betrieblicher Ebene zu unterlaufen – fragte der Wirtschaftssprecher der FPÖ Bernhard Themessl im Sommer dieses Jahres, warum man in Österreich denn überhaupt noch an Kollektivverträgen festhalte. Viel sinnvoller sei es doch, Lohnverhandlungen auf die Betriebsebene zu verlagern. Unter der ersten schwarz-blauen Regierung gab es ebenfalls konkrete Pläne, die kollektivvertragliche gegenüber der betrieblichen Ebene zu schwächen und Lohn- und Arbeitszeitfragen in den Betrieben zu verhandeln. Dieses Vorhaben wurde nie durchgesetzt und konnte verhindert werden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass nicht zuletzt vor dem Hintergrund europaweit stattfindender Angriffe auf die Kollektivvertragssysteme, auch in Österreich Forderungen nach einer Zurückdrängung und Schwächung der Kollektivverträge nicht abreißen wird.