In der gegenwärtigen Rechtslage ist für Personen ohne Berufsschutz ein Zugang zur Invaliditätspension nur dann möglich, wenn sie infolge eines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande sind, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihnen unter billiger Berücksichtigung der von ihnen ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§255 ASVG).
Wer keinen Berufsschutz erworben hat, kann also, sofern er oder sie noch rein theoretisch die Hälfte des niedrigsten denkbaren Vollzeit-Arbeitslohns erwerben könnte, auch trotz erheblichster gesundheitlicher Einschränkungen keine Invaliditätspension in Anspruch nehmen und wird auf den so genannten „fiktiven Arbeitsmarkt“ verwiesen.
Dieser Markt ist tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes „fiktiv“, als Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, auf Grund der Niedrigstlöhne in diesen Bereichen unmöglich zu einem existenzsichernden Einkommen führen können und andererseits auch nicht in einem Maße am Arbeitsmarkt angeboten werden, der den betroffenen Menschen eine berufliche Integration erlaubt. Zwangsläufige Folge dieser Rechtslage ist, dass in Österreich zumindest knapp 30.000 Menschen ohne beruflich verwertbare Ausbildung und Berufsschutz, dafür aber mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen und ohne Perspektive, je wieder einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, in Sicherungssystemen festgehalten werden, die ihnen nicht die in ihrer Situation notwendige Sicherheit und Unterstützung bieten können. In der Regel sind dies die Arbeitslosenversicherung und die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Zur fehlenden Sicherheit und Unterstützung kommt auch noch die enorme gesundheitliche und emotionale Belastung der Betroffenen und ihres sozialen Umfelds wie PartnerInnen und Familienmitglieder.
Es ist menschenverachtend, zynisch und absurd, dass in Österreich Menschen einzig und allein auf Grund ihrer fehlenden Ausbildung und ihrer gesundheitlichen Einschränkungen in einer entwürdigenden, unsicheren und Heilungsprozesse behindernden Situation ohne Perspektive festgehalten werden. Die Absurdität, der Zynismus und die Menschenverachtung werden auch noch auf die Spitze getrieben, als die betroffenen Menschen auf Grund des fehlenden Berufsschutzes auch keine Möglichkeit der Rehabilitation im Rahmen des Zieles „Rehabilitation vor Invaliditätspension“ erhalten können, da sie ja ohne weitere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eben keine Invaliditätspension erreichen können, die Gefahr derselben jedoch Voraussetzung eines Rechtsanspruches auf Rehabilitation darstellt.
Die vorgeschlagene Regelung löst dieses Problem zumindest insofern, als in der Folge nicht mehr 50% des niedrigsten denkbaren Einkommens unterschritten werden muss, um Zugang zu Rehabilitation (und im Fall deren Unzumutbarkeit: der Invaliditätspension) zu erhalten, sondern ein Nettoerwerbseinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle für eine alleinlebende Person.
Der Österreichische Arbeitsmarkt kennt derzeit Beschäftigungsverhältnisse, die unfassbarer weise mit € 1.070,- brutto für eine Vollzeiterwerbstätigkeit entlohnt werden. 50% dieses Arbeitslohns führen bei ganzjähriger Beschäftigung zu einem Jahresnettoeinkommen von € 6.372 (oder € 454,- im Monat, 14 Mal im Jahr). Es ist evident, dass mit diesem Einkommen ein Leben in Würde nicht möglich ist. Fraglich ist, ob mit diesen Einkommen in Österreich überhaupt ein Leben möglich ist.
Es ist moralisch geboten und auch sozialpolitisch wie gesundheitspolitisch intelligent, den Zugang zum Rechtsanspruch auf Rehabilitation und allenfalls zur Invaliditätspension insofern zu erleichtern, als diese zynisch niedrige Einkommensgrenze deutlich erhöht wird. Die Heranziehung der von der Statistk Austria alljährlich erhobenen Armutsgefährdungsschwelle für eine alleinlebende erwachsene Person erlaubt, dass Menschen, die auf Grund ihrer gesundheitlichen Einschränkung nicht in der Lage sind, zumindest ein theoretisches Erwerbseinkommen von € 1040,- brutto im Monat zu erreichen, Zugang zum Rechtsanspruch auf Rehabilitation und allenfalls zur Invaliditätspension hat.
Die Vollversammlung der Arbeiterkammer NÖ möge daher beschließen:
Die Vollversammlung der AK NÖ fordert die Bundesregierung und den Nationalrat auf, dafür Sorge zu tragen, dass der Zugang zur Invaliditätspension auch für all jene Menschen geöffnet wird, die auf Grund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr in der Lage sind, durch Erwerbsarbeit ein existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften. Ein existenzsicherndes Einkommen ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn durch Erwerbstätigkeit ein Jahres-Nettoeinkommen in der Höhe der von der Statistik Austria festgestellten Armutsgefährdungsschwelle erwirtschaftet werden kann.